Isabell Schulte
NewsInfoTexte
Instagram

Isabell Schulte. part I-VII
Wenn Isabell Schulte zeichnet, dann tut sie dies nicht mit einem gewissen Mindestabstand zum weißen Papier, den der ausgestreckte Zeichenarm definiert, sondern mitten im Kunstwerk. Sie sitzt in einem mehrere Meter großen Papierbogen. Diese Arbeitsweise wirkt sich natürlich auf den Bildfindungsprozess aus. Statt alles im Blick zu haben, um einen vermeintlich im Geiste zugrundeliegenden Gesamtplan bei der zeichnerischen Übertragung besser kontrollieren, gegebenenfalls korrigieren zu können, bildet Schulte lieber eine Symbiose mit dem entstehenden Bild. Dabei erobert sie die Zeichenfläche mit ihrem Körper, in dem sie sich kniend darüber bewegt und mit dem Bleistift Striche, Formen und Schraffuren setzt, ohne jedoch das bildnerische Endresultat bereits zu kennen. Dieser intensive und lang dauernde Arbeitsprozess – pro Zeichnung benötigt Schulte mehrere Monate – steht im bewussten Kontrast zum Accelerationsprozess, der dank des technologischen und digitalen Fortschritts allgegenwärtig ist und alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst. Der Künstlerin geht es um den zeitlichen Prozess des Zeichnens, der einer Laborsituation vergleichbar ergebnisoffen ist. Auslösender Impuls ist nicht die künstlerische Verarbeitung visueller Eindrücke, wie man meinen könnte, sondern die Überführung von Geräuschen – also akustischen Informationen – in einen flexiblen Zeichencode. Die daraus entwickelten Einzelformen, man könnte in diesem Zusammenhang vielleicht auch von einer Sonderform einer modernen Hieroglyphe sprechen, bilden durch ihre wiederholte Anwendung komplexe Ordnungssysteme aus. Sie entfalten sich kontinuierlich auf der Papieroberfläche, um irgendwann in sich zusammenbrechen und im Anschluss, anscheinend unabhängig von der Künstlerin, sich vollautomatisiert nach einem unbekannten Programm neu zu organisieren. Hierzu werden mittels Transparentpapier Bildausschnitte kopiert und an anderer Stelle wieder eingebaut. Auch können die einmal entwickelten Einzelformen auf die anderen Zeichnungen überspringen, wo sie den Impuls für die Ausbildung eines neuen Zeichensystems setzen. Die Zeichnungen kommunizieren somit untereinander, vergleichbar mit einer ausdifferenzierten Sprachfamilie, die eine gemeinsame semiotische Wurzel besitzen. Die fertigen Bildresultate mögen dabei an Partituren, Baupläne oder Schaltkreise erinnern, was aber eigentlich stattfindet ist eine Kartografierung des Urgrundes der unbegrenzten Möglichkeiten kreativer Denkoperationen. Für die Ausstellungsreihe Connect Leipzig präsentiert Schulte mit part I-VII sieben großformatigen Bleistiftzeichnungen aus dieser Werkserie, die 2018 begonnen wurden und seit 2020 beendet sind.

Marcus Hurttig, 2021

Isabell Schulte: part I – IX

Prozess / Evolution
Anfang 2018 entwickelte Isabell Schulte auf einem 2 x 3 Meter großen Blatt Papier einen Mikrokosmos mit dem Bleistift: part I. Bei der Arbeit an part II beschloss sie, aus den Blättern eine mehrteilige Serie an großformatigen Zeichnungen wachsen zu lassen, die mit part IX in diesem Jahr voraussichtlich abgeschlossen sein wird. An einer dieser Zeichnungen arbeitet sie etwa drei Monate. Die Zeichnungen part I-VII sind ausschließlich mit Bleistift gezeichnet. Die Serie wird mit zwei Buntstiftzeichnungen beendet werden. Zeichnung als Medium wächst hier nicht aus der Skizze zum Werk, sondern wird als abgeschlossenes Werk konzipiert. Als Prozess kommt die Zeichnung hier als handschriftliche Form der Aufzeichnung von Gedanken daher. Die einzelnen Blätter stehen in einem eindeutigen ästhetischen und formalen Kontext zueinander. Doch tatsächlich erwachsen sie auch auseinander. Jede neue Arbeit bezieht sich auf die vorherigen. Sie wachsen von I bis IX in Dichte, Größe, Vokabular und Farbe. Einzelne Striche formen unterschiedliche Elemente; in der Differenz und der Wiederholung formen die Elemente verschiedene Zeichen; einzelne Zeichen formen Ordnungssysteme – innerhalb der Blätter und zwischen ihnen. Die Summe der Zeichen wirkt wie ein genetischer Code, der die Verwandtschaft der Blätter definiert und in Abhängigkeit der jeweiligen Umgebung und Generation verschiedene Phänotypen zulässt. Elemente verwandeln sich: Sie kippen, verdunkeln sich oder hellen sich auf, sie werden gespiegelt, verzerrt, vergrößert, verkleinert oder in ihr Negativ verkehrt. Dabei folgen die Zeichnungen keinem festgelegten Plan. Sie wachsen. Ein Prozess des Selbstläufers. Sie beginnen an einem Punkt und entwickeln sich in Bezug zu dem, was bereits da ist. Wie Mitglieder einer Band, die improvisieren, sich folgen und aufeinander reagieren. Es ist ein Dialog zwischen der Zeichnung, dem Bleistift, den Formen und der Künstlerin. Beziehung und Kommunikation werden auf der Fläche und zwischen den Blättern verhandelt – von den einzelnen Dingen, ihren Zuständen und ihrer physischen und emotionalen Umgebung. Mal folgt die Zeichnung dem Zufall, mal werden Aktionen gesetzt. So ergibt sich ein Wechselspiel von Ordnung und Chaos. Die Disziplin und Strenge, die den Blättern oberflächlich anhaften, werden von einem vitalisierten visuellen Spiel unterbrochen. Das Spiel entwickelt unterschiedliche Dynamiken und fordert die Betrachter:innen auf einzusteigen. Lässt man sich darauf ein, werden schnell Assoziationen geweckt, die alle berechtigt erscheinen und nie eine Bestätigung erfahren. Wie in dem Spiel mit Schlangen und Leitern klettert man einen Gedankenstrang empor, um drei Schritte weiter auf der glatten Haut der Schlange abzugleiten und einem neuen Gedankengang zu folgen.

Bewegung
Die Zeichnungen entwickeln sich von einer horizontalen Bewegung – Reihe für Reihe – auf das ganze Bild. In der Theorie entspricht diese Bewegung der europäischen Leserichtung von Texten. Doch folgt die Betrachtung der Serie part I-IX keinesfalls konsequent dieser Ordnung. Vertikale Bewegungen durchqueren den horizontalen Fluss am oberen Blattrand. Und die horizontale und vertikale Ordnung wird wiederum durch chaotische, zufällige Elemente bewegt und durchkreuzt. Und so springt unser Auge auf dem Bild umher, bis es an einzelnen Momenten hängen bleibt, von dort den Bewegungen folgt und wiederum umsteigt. Einzelne Elementfolgen wirken wie die narrative Sequenz eines Filmstreifens oder langsam geblätterten Daumenkinos. Gottfried Boehm fragt in einem Text, ob der Hin- und der Rückweg derselbe seien. Seine Überlegung deckt sich mit der Erfahrung der Betrachtung von part I-IX: Die Wahrnehmung eines Einzelelements muss sich verändern, nachdem man es gleichzeitig als Teil eines ganzen Bildes betrachtet hat. Wir kämen dann gar nicht mehr umhin, das einzelne Element unter dem Horizont des Ganzen zu sehen. In dieser ikonischen Differenz kann das Bild „als Medium der Vermittlung von Simultan- und Sukzessiverfahrung“ betrachtet werden. Anders: Wir können nicht umhin, die Zeichnungen in ihren Bestandteilen im gleichen Zuge sowohl gleichzeitig als auch nacheinander zu fassen. In der Betrachtung versuchen wir, die einzelnen Elemente zu sortieren, die zerstreuten und parallelen Gedanken zu fassen und kongruent zu machen. Wir suchen Ähnlichkeit. Wir schwingen zwischen den Assoziationsräumen. Das Auge tastet die Blätter ab. Das Auge hüpft und stolpert über die zeichnerischen Gedankensprünge und -flüsse.

Verhältnis
Die einzelnen Bildelemente auf den Blättern variieren vom einzelnen Punkt und Strich zu komplexen Formen und Gebilden. Die meisten Figuren organisieren sich in Gruppen. Nebeneinander existieren kleine geschlossene Systeme, die sich begegnen, interagieren oder sich in ihrer Autonomie ignorieren. Zwischen den Blättern finden sich Zitate, Verzerrungen und Wiederholungen in abweichenden Größen- und anderen Dimensionsverhältnissen. Die Fläche stellt eine Überforderung dar. Sowohl im Prozess der Entstehung als auch in der Betrachtung. Die Welt ist komplex und verworren in der Gleichzeitigkeit der Dinge. Es gibt den Impuls, ordnen zu wollen. Auf den Blättern gibt eine Rhythmisierung Halt. Es bedarf Konzentration und Ausdauer – für die Schaffung und für die Lektüre. Der zeichnerische Prozess findet für Isabell Schulte (fast) ausschließlich im Detail statt. Die Blätter liegen am Boden, sie kniet darauf. Im Zeichnen ist sie immer in der Nahsicht. Die Verhältnisse in der Gänze des Blattes können nur aus der Distanz wahrgenommen werden, wenn also der Prozess unterbrochen ist.

Körperlichkeit / Raum
Hans Belting zufolge lassen sich Bilder vom Körper nicht trennen. Der Mensch sei der Ort der Bilder. Wie auch in der Sprache zeigt sich bei Bildern die Doppelstruktur des Körpers, der Bilder sieht und Bilder hervorbringt. Die Zeichnungen part I-IX werden in besonderem Maße von einer eigenen körperlichen Erfahrung bewohnt: als Objekte, im Prozess der Produktion und in der Betrachtung. Die Größe der Blätter bestimmt diese Erfahrung. Der Körper der Künstlerin sowie der Betrachter:innen muss sich dazu verhalten. Bereits um eine einzelne Arbeit zu lesen, muss sich der Körper vor dem Blatt bewegen. Er muss sich aber auch im Raum bewegen: zwischen den Blättern, aber auch vor den Blättern. Es gibt keinen idealen Standpunkt zur Betrachtung. Die Choreografie der betrachtenden Körper im Raum findet sich als Choreografie der Zeichenelemente im Bild wieder.
In der Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty ist der Körper (in der untrennbaren Verbindung von Körper und Geist) das Zentrum des fundamentalen Zusammenhangs von Dasein und Welt. Die grundlegende Verfasstheit der Menschen liegt für ihn in ihrer Körperlichkeit, die die Wahrnehmung der Welt bestimmt. Die Welt konstituiert sich aus unserer Wahrnehmung, die wiederum von dem Verhältnis unseres Körpers zur Welt abhängt. „Endlich ist mein Leib für mich so wenig nur ein Fragment des Raumes, dass überhaupt kein Raum für mich wäre, hätte ich keinen Leib.“ Auch wenn für Merleau-Ponty der Raum in Bildern die Illusion der Illusion bedeutet, lässt sich die Körperlichkeit der Welterfahrung auf die Serie part I-IX anwenden. Nehmen wir den Bildraum als erweiterten Umgebungsraum unserer Körper an. Betrachtet man ein Bild ist dieses immer paradox, da die Augen auf eine Fläche blicken und der Geist einen Raum hinter dieser Fläche konstruiert. Beim Lesen der Bilder von Isabell Schulte kippt man immer wieder von der Fläche der Blätter in den Bildraum und zurück zur Oberfläche der Zeichnung. Der Bildraum ist uneindeutig. Die Perspektive bleibt unklar. Oder sie verändert sich auch. Sehen wir eine Draufsicht (worauf auch immer) oder einen Plan? Ein Koordinatensystem mit wie vielen Koordinaten? Wir bekommen keine Legende und keine Skala für den Bildraum. Aber am Ende blicken wir immer auf ein Blatt. Indem ein Denken (das in alle Richtungen gleichzeitig fließt) über eine Welt (die in drei Dimensionen ausgerichtet ist) auf eine Fläche übertragen wird (in der es nur noch zwei Achsen gibt), kann Komplexität reduziert werden. Es gibt nur noch hoch, runter, links und rechts. Diese flache Geografie ist leicht zu überschauen, zu kontrollieren und zu beeinflussen. Vorne und hinten sind in den illusionistischen Raum gefallen. In der physischen Welt brauchen wir die dritte Dimension als Entfernungsverhältnis, um Objekte ordnen zu können, die sich in der Wahrnehmung überlagern und gegenseitig verdecken. Schließlich sind wir nicht göttlich und also auf unseren Körper angewiesen und können so den Raum und die Dinge in ihm nie voll entfaltet sehen. Maurice Merleau-Ponty zufolge ist Tiefe Ausdruck der menschlichen Teilhabe am Sein des Raums. Der Mensch ist im Raum. Und so sehen wir auch die Tiefe in Isabell Schultes Zeichnungen, die einen Bezug zwischen sich und der Welt schafft, so wie die Tiefe bei Merleau-Ponty den Bezug von Körper und Raum. Doch die Tiefe in den Zeichnungen part I-IX bringt auch die Unübersichtlichkeit und Unkontrollierbarkeit des Raumes mit sich. Wenn jedoch der Blick aus der Tiefe des Bildraumes wieder an die Oberfläche gleitet, irritiert von der uneindeutigen Perspektive, stellt sich Beruhigung ein. Wir stehen tatsächlich vor einer Fläche, auf welcher sich nichts verbergen kann. Alles, was sich in diesem flachen Raum befindet, muss sich auch mitteilen. „Ist in diesem Zusammenfallen von Sein und Sich-zeigen nicht eine anregende Konstellation für alle Situationen, in denen – kognitiv – ein ‚Überblick‘ von Nöten ist?“

Zeitlichkeit
Durch die Wiederholungen, die unterschiedlichen Rhythmen und Bewegungen entsteht eine zeitliche Ebene. Wie bei einem Filmstreifen assoziieren wir eine Bewegung, die sich in der Zeit ereignet und vollzieht. Die Abfolgen von bestimmten Elementen geben Prozesse wieder, zeigen Rhythmen, Entwicklungen, Wiederholungen, Zustände von Festem und Bewegtem, die parallel zueinander ablaufen. Es handelt sich um periodische Wiederholungen und Taktungen, wie sie seit dem Mittelalter in der Notation von Musik verwandt wird. Wie auf einem Notenblatt breitet sich eine zeitliche Abfolge rhythmisiert im Raum / auf der Fläche aus. Dabei entfaltet sich die Bewegung in der Zeit nebeneinander auf dem Papier. Es ist erneut eine sowohl sukzessiv als auch simultan ablaufende Zeit. Unsere verbale Sprache verläuft sukzessiv. Diese visuelle Sprache ist in räumlicher Simultaneität organisiert. Verbale Sprache fließt, ist also flüchtig. Die grafische Sprache von part I-IX in ihrer räumlichen Struktur verlangsamt die kommunikativen Prozesse. Das Denken, Erkennen, Ordnen von Wissen und Gedanken ist durch den sukzessiven Zeitfluss in Bewegung. Diese Bewegung kann jedoch in all ihren Momenten nachvollzogen werden. Sie ist transparent geworden. Wir können mit dem Auge beliebig in jedes Moment hineinspringen, es laufen lassen, die Geschwindigkeit bestimmen, anhalten, die Richtung ändern.

Schreiben / Zeichnen
Isabell Schultes Prozess der Zeichnung beginnt stets in der linken oberen Ecke und bewegt sich horizontal von links nach rechts und zeilenweise von oben nach unten – bis ein Moment erreicht ist, wo sich das Zeichnen von diesem formalen Einstieg befreit. Dieser Anfang jeden Blattes folgt dem Ablauf des Schreibens – in diesem Kulturraum. Wenn man den einzelnen Elementen auf dem Papier folgt, meint man gewisse Gedanken wie einen Text lesen zu können – schwarz auf weiß, klar umrissen und skaliert –, ohne die einzelnen Zeichen/Symbole und die Konventionen des Lesens genau kennen zu müssen. Laut Wittgenstein ist Visuelles eine sprachliche Struktur, die über das Sprechen hinausgeht. Es bleibt immer ein Rest, der nicht kognitiv und also verbal gefasst werden kann. Und ist dennoch Sprache. Wenn diese visuelle Sprache sich in der Zeichnung manifestiert, kommt dem Zeichnen eine Ähnlichkeit mit dem Schreiben zu. Das haben bereits Denker:innen wie Maurice Merleau-Ponty, Jacques Derrida oder Rosalind Krauss beschrieben. In part I-IX können wir Veränderungen sehen, die in ein Bild umgewandelt sind – in ein ikonisches Zeichensystem. In sich abgeschlossene Einheiten wiederholen und wandeln sich, sie werden zu Zeichen. Ähnlich wie unsere Buchstaben sind sie arbiträr: Sie haben keine in sich selbst ruhende Bedeutung. Nur in der Kombination der Zeichen und ihrer Unterschiedlichkeit zueinander konstituiert sich die Bedeutung. Beispiel: Ein ‚b‘ selbst meint nichts. Zusammen mit einem ‚i‘, ‚l‘ und ‚d‘ formt sich die geschriebene Manifestation eines Wortes, das kulturell mit Bedeutungsnuancen aufgeladen ist. Diese Bedeutungen unterliegen Konventionen, welche wir kennen müssen, um uns einem Verständnis annähern zu können.
Für Jacques Derrida gibt es drei Eigenschaften, die Schrift ausmachen: Iterabilität, Lesbarkeit und Verräumlichung. Iterabilität meint, dass ein Zeichen wiederholbar ist und gleichzeitig veränderlich. Es findet also eine Sinnverschiebung statt. Jedes Zeichen kann mit jedem Kontext brechen und unendlich viele neue Kontexte erzeugen. Dass ein Zeichen lesbar bleiben muss, versteht sich von selbst. Es kann nicht beliebig sein. Und damit etwas Schrift ist, muss es sich im Raum ausbreiten. Klar. Würde es sich in der Zeit ausbreiten, wäre es Sprache. Mit diesen drei Kriterien kann auch allgemein die Zeichnung als zeichenhaft bestimmt werden. Und das Zeichnen somit als Schreiben. In part I-IX hat Isabell Schulte jedoch auch konkret so etwas wie Schriftzeichen entwickelt. Wie fremde Hieroglyphen tauchen sie an unterschiedlichen Stellen in abgewandelter Form auf. In ihrer absoluten Abstraktion meinen diese Zeichen selbst nichts weiter als sich selbst – wie unsere Buchstaben. Aber in der Interaktion auf dem Papier entsteht Sinn. Schrift ist allerdings nicht nur Trägerin von Informationen. Sie ist auch Spur von Handlung und dokumentiert Bewegung. Sie ordnet und gestaltet Fläche, sie erschafft Räume. Sie ist gleichzeitig materiell und immateriell. „Was die Schrift dem diskursiven Fluss der Sprache entgegensetzt, ist also nicht die mis-en-page per se, sondern das Vermögen, beim Schreiben mit dem Verschriftlichten ‚handgreiflich‘ und ‚begrifflich‘ umgehen zu können.“ Und so ist die Schrift als Zeichnung bei Isabell Schulte stoffliche Ordnung von Gedankenströmen.

Sinn & Sinnlichkeit
In der klassischen Bildtheorie ist die Zeichnung als disegno ein geistiges Konzept, welches mit Linien auf einem Blatt sortiert wird. Die Zeichnung ist hier die geistige Vorarbeit für die Malerei. Sie ist in der Kunstgeschichte eine in der Linie sichtbar gewordene Idee. Die Linie der Zeichnung ist weder materiell noch sinnlich. Sinnlich ist in dieser Anschauung die Malerei mit ihrer Farbe und Fläche. Nun hat sich die Zeichnung im Laufe der Jahrhunderte emanzipiert und niemand würde den Zeichnungen von Isabell Schulte eine Sinnlichkeit absprechen. Folgt man jedoch Jacques Derrida, ist die Zeichnung in jedem Fall als sinnlich zu fassen. Jede Linie, jedes Zeichen im Bild hat eine sinnlich fassbare Form. Das Bild ist nicht nur Träger von Sinn oder Bedeutung. Bedeutung ist laut Derrida nicht unabhängig von ihrer sinnlichen Form, in welcher sie als Zeichnung sichtbar in Erscheinung tritt. Jedes Zeichen kann nur als sinnlich Fassbares existieren. Während gleichzeitig jede Form von Materialität zeichenhaft bleibt. Sinnlichkeit und Zeichenhaftigkeit lassen sich nicht voneinander lösen und umschwirren sich fortwährend. In diesem Sinne ist die Zeichnung immer bereits von Sprache oder eben diskursiven Momenten durchdrungen. „Eine Zeichnung ist immer schon mehr oder weniger als das Sichtbare: An der Oberfläche der Zeichnung ist ein Gemurmel vernehmbar, das man bloß aufgreifen muss, nicht in die Zeichnung hineinlegen. Aber man muss es vielleicht verdeutlichen oder ausformulieren – und dazu muss man bloß die Worte hören, die in der Zeichnung angelegt sind. Zwischen dem Gemurmel, das der Zeichnung inhärent ist, und der Sprache, die sich von außen um sie legt, scheint nur eine feine Grenze zu liegen.“

Notation
Notationen existieren in drei Formen: 1. Als Handlungsanweisung der Partitur, 2. als Notiz oder Aufzeichnung und 3. als utopisches Modell der Skizze. Notationen fungieren als nichtsprachliches Symbolsystem. Sie können – abgesehen von der Partitur – nicht nur in Musik, sondern genauso gut in Architektur, Bewegung oder eben Abstraktion münden. Notationen sind ein formales Findungsverfahren. Ein bildliches Notieren im Sinne von Entwickeln, Planen, Gedanken strukturieren. In der Musikgeschichte ist die Notation die Bedingung der Reproduktion und auch der schriftlichen Tradierung von Musik. Seit dem 20. Jahrhundert entwerfen auch bildende Künstler:innen Notationen als Anweisung zum Spiel, als Mittel zur Kommunikation oder eben als autonome Werke. In der Kunstgeschichte wurde die Betrachtung der Notation sinnbildlich für die Frage nach Sinn, Form und Vermächtnis des Kunstwerks überhaupt.
In Isabell Schultes Arbeiten bilden die einzelnen Zeichenelemente eine serielle Struktur. Sie verhalten sich wie Variationen zu einer Grundmelodie. Sie klingen. Sie haben eine performative Dimension. Es ist naheliegend, an unterschiedliche Notationsmodelle zu denken. Die Bildlichkeit verschiedener Notationen ist als visuelle Spur der Formfindung zu erfahren. Die Serie part I-IX beinhaltet sehr präsente Momente der Verzeitlichung, aber auch der Prozessualisierung – eine Eigenschaft, die die Notation bedingt. Auch die Frage nach Original und Ergebnis stellt sich in der Notation, wie innerhalb der Serie part I-IX. Betrachten wir diese Zeichnungen als Notationen, werden die Betrachter:innen zu Interpret:innen. Auch wenn sie mit unbekannten Regeln zur Handhabung konfrontiert sind. Sie müssen die Richtung, die Wege, Reihenfolge und Instrumentierung selbst finden und bestimmen. Die Koordinaten bleiben unbekannt. Die Zeit schwebt in der Überlagerung von aufeinanderfolgenden Sequenzen. Einzelne Stränge verwirren sich wie lose geworfene Filmstreifen auf dem Schnitttisch. Die Interpretation der Notation durch die Betrachter:innen verleiht den Ideen und Gedanken der Bilder eine Stofflichkeit. Betrachtung und also Interpretation heißt Übertragung mit den Sinnen und dem Intellekt, während man anhand der Setzung und Taktung der Linien aus dem eigenen Persönlichen schöpfen muss. Die Interpret:innen werden zu Mitautor:innen. Dabei ist das, was in der Interpretation wächst, unvorhersehbar und abhängig von Zufall und Kontext. Egal, ob die Notation als Handlungsanweisung zu begreifen ist oder als Notierungssystem: Sie kommuniziert Abläufe von physischen oder gedanklichen Bewegungen. Als Ordnungssystem von Notizen eines Denkprozesses, aber auch als visuelle Anleitung bedient sich die Notation der Formen, Zeichen und Symbole der grafischen Welt, um das Chaos zu ordnen und uns darin anzuleiten. „Denn da ist die Ungewissheit in unserem Blick, die Unsicherheit unserer Sinne, die sich fragen, worauf dieses Objekt ‚im Realen der Bewegung‘ verweist. Wo bleibt die Zeit in dieser dreisten Dauerhaftigkeit außerhalb der Zeit? Wo ist der eine Vogel in dieser vielgestaltigen Figur? Genau darin besteht die Kraft der Notation: Sie erlaubt dem menschlichen Gehirn, zu begreifen und greifbar zu machen, was nicht existieren konnte.“

Algorithmus / Konstruktionszeichnung
Die erste Definition, die das Internet liefert, besagt, Algorithmen seien Verfahren zur schrittweisen Umformung von Zeichenreihen, bzw. Rechenvorgänge nach einem bestimmten (sich wiederholenden) Schema. Die Arbeiten von Isabell Schulte sind nun keineswegs exakt programmiert; Intuition und Zufall spielen eine große Rolle. Und doch gibt es in den Bildern eine Art Regelwerk, das sich festgeschrieben durch die Arbeiten zieht und diese definiert. In der Wiederholung entstehen Abweichungen. Der Impuls der Künstlerin ist der Bug der Programmierung. Der Gedanke an technische Zeichnungen liegt nicht nur in der ästhetischen Ebene der Formen, sondern auch in dem Mittel der Zeichnung begründet. Der mit Bleistift gezogenen Linie hängt mit ihrer Präzision, aber auch ihrem spröden Wesen etwas Technisches an. Die Größe der Blätter suggeriert einen Maßstab als Verhältnis zu einem abstrahierten Objekt, das hier entworfen oder analysiert wird. Schaut man auf part I-IX als Konstruktionszeichnungen, entsteht ein Wechselverhältnis zwischen Technischem und Symbolischem, also zwischen Ikonischem und Diskursivem. Die Notwendigkeit, sowohl Objekte als auch Vorgänge zu visualisieren, ist nicht bloß ein Vehikel der Vorstellungsgabe, sondern selbst Bedingung der Wissenschaft. Transformiert in der Kunst zeigen sich Texte als (Kultur)Technik, zeigt sich das Symbolische in seiner manipulierbaren Beschaffenheit und Differenzen in der Interpretation sind keine Fehler mehr.

Kartografie / Rhizom
»Denken heißt reisen. Demnach sind das Weltganze und die unendlich kleine Einzelheit die beiden phantasmatischen Urtriebe eines Welt-Wissens, das auf die Reise, in die Irre und zur Entdeckung treibt.« So schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari und beschreiben eine Denkweise, den Raum, seine Dynamiken und Bewegungen, aber auch seine Abbildungen neu zu denken. Raum, Zeit und Dynamiken werden dabei zu relationalen Positionierungen, die verschmelzen und uneindeutig werden. Die eigene Position orientiert sich nicht mehr an Koordinaten, sondern eher am eigenen Handeln im Raum. Reisen, ohne sich zu bewegen, verbinden Deleuze und Guattari mit einer bestimmten Art zu denken. Ein Denken von Isabell Schulte hat sich in der Serie part I-IX eingeschrieben. Auch dies ein Reisen – über die Zeit der Entstehung, im Denken und beim Betrachten. Die Arbeiten werden so zu Karten, die das Gelände, den Raum, die Bewegung darin, Sichtbares und Imaginiertes durch ein Einfangen des Entgrenzten im Kleinsten miteinander verbindet. Karten sind Welt projiziert auf eine Ebene – virtuelle Landschaften. Ein Konzept von Raum, das selbst ortlos geworden ist. Karten sind gleichzeitig les- und sichtbar (im Gegensatz zu Michel Foucaults Position, die beides sonst gründlich trennt). Sie enthalten ihren eigenen Index a priori. Karten sind immer Projektionen. Zum einen sind sie Projektionen der Welt. Als solche bleiben sie unvollständig. Sie können nie die Lebensrealität dieser Welt mit all ihren Sinneseindrücken einschließen. Zum anderen sind Karten per se auch Projektionen ihrer Zeichner:innen. Seit ihrer Entwicklung war die Karte eng mit der bildenden Kunst verbunden. Maler seit der Renaissance schufen Karten und Karten beinhalteten schon immer auch eine ästhetische Dimension, die der Landschaftsmalerei entlehnt war. Dennoch galt die Karte lange als neutral und objektiven Kriterien unterlegen. Doch auch diese Auffassung ist ideologisch. Es kann nicht negiert werden, dass jede Karte immer schon Interpretation und Urteile enthält. Sie wiederholt Weltbilder und Machtansprüche. Hat man dies einmal akzeptiert und transparent gemacht, eröffnet die Karte ein großartiges Potential. Mit ihrer sowohl beschreibenden als auch malerischen Eigenschaft eröffnet sie ein Plateau, auf dem der Blick nomadisch werden kann – ganz im Guattari/Deleuzschen Sinne. Sie ist ein Paradox in sich: gleichzeitig Ort und Nicht-Ort. Sie ist der Ort des Dazwischen, der den Blick deterritorialisiert. Doch als Abbilder der Welt, als Herstellen von Welt bringen Karten auch genau die gleichen vielfältigen Logiken und Paradoxien hervor, die die Welt ausmachen.
Part I-IX als Karten betrachtet, werden zu Protokollen abstrakter Denkströme. Wie Flüsse breiten sie sich auf dem Papier aus, werden zu Rhizomen. Es sind subjektive Erfahrungen, übertragen mit dem Bleistift in abstrakte Formen und Gesten auf dem Papier. Materialisierte Gestalt bestimmter Zustände. So lässt sich Kartografie ebenfalls beschreiben. „Im Gegensatz zu Graphik, Zeichnung und Photo, zu den Kopien bezieht sich das Rhizom mit seinen Fluchtlinien auf einer Karte mit vielen Ein- und Ausgängen; man muß sie produzieren und konstruieren, immer aber auch demontieren, abschließen, umkehren und verändern können. [...] In zentrierten (oder auch polyzentrischen) Systemen herrschen hierarchische Kommunikation und von vornherein festgelegte Verbindungen; dagegen ist das Rhizom ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General, organisierendes Gedächtnis und Zentralautomat; es ist einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert.“ Eine Karte zu lesen ist eine komplexe Lektüre. Man muss sich selbst in die Karte projizieren und seine eigene Position vergessen. Die zarte Alchemie der Karten, wie auch der von part I-IX, verwandelt Raum in Zeit. Eine Zeit, die sich selbst durchdringt, zu Abdrücken von Vergangenem wird, das die Gegenwart schleift und die Chronologie aufhebt. Diese Zeit verschiebt die (Ge)schichten. In der Karte gibt es immer nur den Weg. Ein ständiges Werden. Momenthafte Zustände, die es zu decodieren gilt. Es gilt die Veränderungen und Überlagerungen in den Blick zu nehmen, um der „Unordnung der existierenden Welt einen kulturellen Widerstand und eine menschliche Bejahung der pluralen Zwischenwelten entgegenzusetzen.“

Clara Hoffmann, 2021

Isabell Schulte produziert großformatige Zeichnungen. In der Reihe Part I-V wuchern kleinteilige Elemente, präzise gesetzt, über eine Fläche von sechseinhalb Quadratmetern Papier. Die Zeichnungen entstehen in einem Prozess von mehreren Monaten. Teilweise erinnern sie an kartografische Arbeiten oder Notationen. Doch diese erste Assoziation löst sich nicht ein. Weder ein bestehendes semiotisches System liegt ihnen zugrunde, noch sind sie eine Versprachlichung von etwas Externem, was mehrere gleichermaßen beobachten können. Gemeinsam mit existierenden Zeichensystemen aber ist ihnen der Versuch einer Ordnung, die Überführung komplexer Gegebenheiten in eine andere Form, durch welche sie nachvollziehbar gemacht werden. Isabell Schulte schafft ein eigenes System von Zeichen – vollkommen subjektiv – was im Prozess des Zeichnens entsteht. Das Papier liegt auf dem Boden, die Künstlerin bewegt sich kniend darüber, setzt kleine Striche, Formen und schraffiert Flächen. Sie strukturiert, was in ihrem Kopf ist, ein Denknetz, was zuvor nicht analytisch in ein Denkmodell überführt wurde. Die schwer zu fassende Gleichzeitigkeit realer Gegebenheiten ist der Ausgang dafür. Oft perzeptiv werden daraus Gedanken, die nicht linear sind. Sie laufen übereinander, nebeneinander und wiederholen sich, einige kommen nie wieder, sie sind sprachlich oder bildlich, ebenso wie es die Möglichkeit der Erinnerung und die der Imagination gibt. Der sonst mentale Prozess gedanklichen Elementen Ordnung zu verleihen, wird von Isabell Schulte in ein Verfahren mit körperlichem Anteil umgeformt. Sie verschafft sich Kontrolle – körperlich und mental – über die eigene komplexe gedankliche Unordnung und Unruhe, indem sie diese in einem physischen Prozess – dem Zeichnen – strukturiert, in die physische Realität holt und sie durch die Übertragung auf diesen Vorgang zugleich entzerrt. Sie gibt dem Denken eine neue Zeit und einen neuen Raum, die von ihren körperlichen Möglichkeiten abhängig sind. Durch dieses Externalisieren – das zeichnerische Festhalten in einem selbstreferentiellen Vorgang – gewinnt das Denknetz der Künstlerin einen faktischen Wert. Die Gedanken gewinnen eine für mehrere verhandelbare Wahrheit, ohne jemals in allgemeingültige Begriffe überführt zu werden. Während für die Betrachtenden das ordnende System sichtbar ist, wird nicht nachvollziehbar, was geordnet wird. Es gibt keinen Schlüssel, der den Zusammenhang von subjektiv generierten Zeichen und dem durch sie versprachlichten Gegenstand lesbar macht. Den Betrachtenden tritt ein visueller Reiz von Rhythmus, von etwas Langsamem oder Schnellem, von Verdichtung und Entzerrung, Vergehen, Wichtigkeit und Fokussierung entgegen. Sie bekommen eine Vorstellung von dem körperlichen und gedanklichen Prozess, der in diesen Zeichnungen liegt. Isabell Schultes Zeichnungen geben das individuelle Erleben der Künstlerin wieder, ohne dabei eine Vorstellungsanweisung für ihre benannten Beobachtungen zu formulieren.

Lisa Thiele, 2020