Wenn Isabell Schulte zeichnet, dann tut sie dies nicht mit einem gewissen Mindestabstand zum weißen Papier, den der ausgestreckte Zeichenarm definiert, sondern mitten im Kunstwerk. Sie sitzt in einem mehrere Meter großen Papierbogen. Diese Arbeitsweise wirkt sich natürlich auf den Bildfindungsprozess aus. Statt alles im Blick zu haben, um einen vermeintlich im Geiste zugrundeliegenden Gesamtplan bei der zeichnerischen Übertragung besser kontrollieren, gegebenenfalls korrigieren zu können, bildet Schulte lieber eine Symbiose mit dem entstehenden Bild. Dabei erobert sie die Zeichenfläche mit ihrem Körper, in dem sie sich kniend darüber bewegt und mit dem Bleistift Striche, Formen und Schraffuren setzt, ohne jedoch das bildnerische Endresultat bereits zu kennen. Dieser intensive und lang dauernde Arbeitsprozess – pro Zeichnung benötigt Schulte mehrere Monate – steht im bewussten Kontrast zum Accelerationsprozess, der dank des technologischen und digitalen Fortschritts allgegenwärtig ist und alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst. Der Künstlerin geht es um den zeitlichen Prozess des Zeichnens, der einer Laborsituation vergleichbar ergebnisoffen ist. Auslösender Impuls ist nicht die künstlerische Verarbeitung visueller Eindrücke, wie man meinen könnte, sondern die Überführung von Geräuschen – also akustischen Informationen – in einen flexiblen Zeichencode. Die daraus entwickelten Einzelformen, man könnte in diesem Zusammenhang vielleicht auch von einer Sonderform einer modernen Hieroglyphe sprechen, bilden durch ihre wiederholte Anwendung komplexe Ordnungssysteme aus. Sie entfalten sich kontinuierlich auf der Papieroberfläche, um irgendwann in sich zusammenbrechen und im Anschluss, anscheinend unabhängig von der Künstlerin, sich vollautomatisiert nach einem unbekannten Programm neu zu organisieren. Hierzu werden mittels Transparentpapier Bildausschnitte kopiert und an anderer Stelle wieder eingebaut. Auch können die einmal entwickelten Einzelformen auf die anderen Zeichnungen überspringen, wo sie den Impuls für die Ausbildung eines neuen Zeichensystems setzen. Die Zeichnungen kommunizieren somit untereinander, vergleichbar mit einer ausdifferenzierten Sprachfamilie, die eine gemeinsame semiotische Wurzel besitzen. Die fertigen Bildresultate mögen dabei an Partituren, Baupläne oder Schaltkreise erinnern, was aber eigentlich stattfindet ist eine Kartografierung des Urgrundes der unbegrenzten Möglichkeiten kreativer Denkoperationen. Für die Ausstellungsreihe Connect Leipzig präsentiert Schulte mit part I-VII sieben großformatigen Bleistiftzeichnungen aus dieser Werkserie, die 2018 begonnen wurden und seit 2020 beendet sind.
Marcus Hurttig, 2021
When Isabell Schulte draws, then she does not do so with a specific minimum distance to the white paper defined by the outstretched drawing arm, but in the middle of the artwork. She sits on a sheet of paper that measures several metres. This method has an effect on the process of pictorial composition, of course. Instead of having an overview in order to better oversee a master plan supposedly based in her mind’s eye and, if need be, correcting it, Schute prefers to develop a symbiosis with the image being created. In the process, she occupies the drawing surface with her body by moving while kneeling over it and using a pencil to draw lines, shapes and hatching, without, however, knowing what the end result will be. This intense and lengthy working process – Schulte requires several months for each drawing – deliberately contrasts with the process of acceleration, which owing to technological and digital progress is ubiquitous and embraces all areas of society.
For the artist it is a question of the temporal process of drawing, which, like a laboratory situation, is open-ended. Due to their repeated use, the individual forms – in this context one might also refer to a special form of modern hieroglyphics – develop complex systems of order. They continuously evolve on the paper’s surface only to collapse at some point and subsequently, independent of the artist, automatically reorganise themselves according to an unknown programme. To this end, details are copied with the aid of tracing paper and reincorporated elsewhere. The individual forms that have already been developed can, much along the lines of a migration process, can jump over to other drawings, where they set the momentum for the development of a new semiotic system. The drawings communicate among one another, comparable to fully differentiated linguistic families that possess a shared semiotic root. The final pictorial results may be reminiscent of scores, construction plans or integrated circuits. However, what actually takes place is a mapping of the very basis of the unlimited possibilities of creative mental operations.
Marcus Andrew Hurttig, 2021